Ein Abend in der Smellwell Street
Als Lord Soxley spät die alte Smellwell Street hinunter schritt, sah er schwarze Schatten die immer dann verschwanden, wenn er den Kopf in ihre Richtung drehte. Es war das Rotlichtviertel von Saint Congruch, in das er nach alter Tradition einmal im Jahr pilgerte. Einmal im Jahr, wenn der Kalender den Tag seiner Geburt anführte. Soxley war jedes Mal aufgeregt wie ein kleiner Schuljunge bei dem Gedanken daran, was im Laufe des Abends geschehen würde. Wieder huschte ein Schatten im seitlichen Blickfeld an ihm vorbei.
Er trug seine hochpolierten Reiterstiefel und einen schwarzen Zylinder, in der Rechten hielt er einen schwarzen Ebenholzstock mit einem silbernen Knauf.
“Guten Abend mein Lord, was treibt euch in diese Gegend?“
Soxley fuhr zusammen, ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken unter seinem Gehrock herab. Wer hatte da aus dem Dunkel der Seitengasse zu ihm gesprochen? Vielleicht war er ja gar nicht gemeint. Hier, in diesem anrüchigen Viertel sollte man ihn nicht erkennen. Es wäre nicht gut für seinen Ruf als aufstrebender Anwalt. Soxley atmete tief durch und setzte dann seinen Schritt fort. Er versuchte Sicherheit in seinen Gang zu setzen, um nach Außen gar nicht den Anschein zu geben, dass er Angst haben könnte. Er sah auf der gegenüberliegenden Seite der Straße wie eine Prostituierte im Schein einer Laterne mit einem gut gekleideten Mann stritt. Ein Stückchen weiter die Straße herunter standen weitere „Damen“ die, in der Öffentlichkeit rauchend, in ein Gespräch vertieft schienen. Er überlegte kurz ob er zu ihnen gehen sollte um in der Gesellschaft Schutz zu finden, entschied sich aber dagegen, weil er fürchtete im Dämmerlicht von einem Geschäftspartner erkannt werden zu können. Wieder drehte er sich um, weil er etwas in seinem Rücken gespürt hatte. Der junge Anwalt konnte die Schatten fühlen, er konnte hören wie jemand ---
oder Etwas atmete. Soxley konnte auch hören, wie der Hall seiner Reiterstifelabsätze von den schäbigen Wänden reflektiert wurde, das Echo seiner eigenen Schritte, doch er wusste, dass er hier keiner Sinnestäuschung, einem Gespinst seiner Ängste auf den Leim ging.
Hier, hier auf der Smellwell Street war jemand, der ihm folgte, der ihm entweder nur Angst einjagen wollte oder der eben etwas Anderes von ihm wollte. Vielleicht seine Geldbörse, die er in der Innenseite seines Gehrockes trug und die gerade heute mit einigen großen Scheinen gefüllt war. Die Smellwell Street war zwar ein schäbiges Pflaster, doch die Angebote die hier gemacht wurden, konnte man nicht eben als billig bezeichnen. Soxley spürte wie er anfing zu schwitzen und da er wusste, dass er kein guter Läufer war, zu langsam, zu untrainiert um seinem imaginären Verfolger durch einen Sprint entkommen zu können, noch dazu weil er seine steifen Reitstiefel trug, fasste er den Entschluss, sich dem Wesen, der Gestalt, der Person, wem auch immer zu stellen. Er hatte sich in seinem Leben immer den Herausforderungen gestellt, die an ihn gestellt wurden. Einmal gar, vor einigen Jahren, als er noch ein Student der hoch angesehenen University of Shoesmooth war, hatte ihn ein Kommilitone zu einem Duell gefordert, bei dem es um die Ehre einer jungen Dame gegangen war, es mochte wohl die Schwester oder Verlobte jenes Unglücksraben gewesen sein, den er später mit einem gezielten Schuss aus seinem Vorderlader in das Morgentau und somit ins Jenseits befördert hatte.
Er versuchte daran zu denken, an die Angst die er gehabt hatte und das gute Gefühl, der Stolz, die Männlichkeit, die er durch den edlen Akt gewonnen hatte. Soxley blieb stehen, verharrte einen Augenblick und wandte sich dann auf dem Absatz um. Wieder blickte er ins Schwarze, doch er konnte einen Umriss erkennen. Es war, wie er mit einiger Erleichterung erkannte, eine menschliche Gestalt, vielleicht einen Kopf größer als er selbst. Soxley wartete eine Sekunde, ob der Fremde etwas sagen wollte, dann fiel ihm wieder ein, dass er selbst die Initiative behalten wollte um das weitere Geschehen so gut wie möglich beeinflussen zu können.
„Ein schöner Abend, nicht war? Es ist recht warm für einen Abend im Mai. Wir werden wohl einen heißen Sommer bekommen, wenn man dem Gerede der alten Leute glauben darf.“ Während er diese belanglosen Worte sprach zog er sein ledernes Zigarettenetui und das silberne Feuerzeug aus einer Tasche seines Rockes.
„Wollen wir zusammen eine feine Zigarette rauchen, mein verehrter Unbekannter?“ Er hoffte im Schein seines Feuerzeuges, des Feuerzeuges, das ihm sein damals schon todkranker Vater zum bestandenen Examen geschenkt hatte, dass er in diesem Schein ein wenig mehr von der immer noch schwarzen Gestalt sehen könnte. Doch der Fremde ging nicht auf sein Angebot ein.
„Soxley? Seid ihr Lord Soxley?“
Soxley gefiel nicht, wie dieser Fremde seinen Titel Lord betonte. Hörte er Verachtung? Bisher hatte niemand zu zweifeln gewagt, an seinem Lordtitel zu zweifeln gewagt. Der Titel für den er einige Pfund bezahlt hatte und der ihm so manche Tür leichter geöffnet hatte.
„Ihr seid doch Lord Soxley, der bekannte Anwalt? Ich habe euch gesucht und man sagte mir, dass ihr heute hierher kommen würdet. Nun, wie es aussieht stimmte die Information.“
Soxley schauderte:
„Wer hat euch … ihr hättet doch in meine Kanzlei kommen können, wenn ihr nach mir gesucht habt. Ihr hättet nicht hier lauern müssen, mich zu Tode erschrecken. Was also wollt ihr von mir und vor Allem, wer seid ihr?“
„Oooh, ich vergaß mich vorzustellen, wie töricht, wie unhöflich von mir. Und dass ich nicht zu euch kommen konnte. Nun, ihr werdet gleich verstehen warum das nicht möglich, nicht mehr möglich ist. Mit diesen Worten nahm ihm der Unbekannte, dessen Stimme gar nicht so unheimlich klang, das silberne Feuerzeug aus der Hand, die ihm in diesem Moment vorkam, als sei sie gelähmt, als sei sein ganzer Arm erfroren und zu keiner Bewegung mehr fähig.
Die Stimme fuhr fort:
„Vielleicht kennt ihr meinen Namen noch, vielleicht habt ihr ihn längst vergessen. Wir sind uns vor Jahren begegnet. Wir schritten einen Teil des Weges gemeinsam, der Weg der euch zu Erfolg, Ruhm und Wohlstand geführt hat und mich… Mein Name. Man nannte mich früher Andrew Looseankite. Wir studierten an derselben Universität, ihr das Recht, ich die Architektur…“
„Ach, ich erinnere mich, wir hatten gemeinsame Kommilitonen, wir feierten einige Feste zusammen wenn ich mich nicht irre.“
In diesem Moment kamen die gesamten Erinnerungen zurück und Soxley fühlte sich, als hätte ihm jemand einen gewaltigen Hieb in den Unterleib verabreicht. Magensäfte stiegen seine Speiseröhre hinauf und er fürchtete sich übergeben zu müssen. Andrew Looseankite war der Name des jungen Mannes, mit dem er sich duelliert hatte. Es war um seine Cousine gegangen. Looseankite hatte ihm vorgeworfen, dass er Frederick Soxley seiner Cousine Johanna Looseankite dahingehend Schande hatte zuteil werden lassen, dass er ihre Unschuld befleckt hatte und sie noch dazu geschwängert hatte. Dabei wusste jeder, dass diese junge Frau mit jedem…
„Ich denke ihr wisst nun wer ich bin. Ja, ich habe euch zum Duell gefordert um die Ehre meiner Cousine wieder herzustellen, die sich aus Scham und Verzweiflung in die Themse gestürzt hat und damit ihr Leben und das Leben unserer Familie beendet hat. Doch damit nicht genug. Aus Feigheit brachet ihr „Lord“ Soxley die Regeln des Duells und feuertet eure Waffe zu früh ab, trafet mich, tötetet meinen Sekundanten und suchtet dann das Weite. Doch ihr hättet nicht so überstürzt fliehen sollen, denn wie ihr seht…“
„Wie, wie ist das möglich?“
Soxley rang nach Worten, versuchte eine Erklärung zu finden, als er das vertraute Quietschen seines Feuerzeuges hörte. Die Flamme flackerte auf und er konnte den unteren Teil der Gestalt erkennen. Wie es aussah, trug er einen feinen Anzug, der jedoch mit Flecken, Löchern, mit Schimmel gar übersäht war. Es war der Anzug, den Andrew Looseankite damals, vor 25 Jahren beim Duell auch getragen hatte. Soxley gefror das Blut in den Adern. Sein Gegenüber hob das Feuerzeug langsam höher, so dass der Lichtschein bald auch sein Gesicht beleuchtete. Doch von einem Gesicht konnte man nicht mehr sprechen. Die eine Seite war fast vollständig zerissen, von dem Schuss der ihn getroffen hatte in Fetzen zerissen, die andere Seite war verwest. Das blonde Haar fiel in schleimigen Strähnen in das ehemals so gut aussehende Gesicht.
In diesem Moment begann Andrew Looseankite zu lachen, lauter und lauter. Soxley fürchtete den Verstand zu verlieren, hielt sich die Hände auf die Ohren und sank auf die Knie. Zum ersten Mal in seinem Leben versuchte er um Verzeihung zu bitten.
Und auch zum letzten Mal.
Seltsam, doch so steht es geschrieben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen